Anatolien: Wiege der Zivilisation und viel mehr
Es wäre sicherlich keine Übertreibung, zu behaupten, Anatolien sei gleich die Türkei. Zwar befinden sich vor allem die wirtschaftlich wichtigen Gebiete auf dem europäischen Kontinent, darunter der westliche Teil von Istanbul, doch von der Gesamtfläche her machen diese lediglich 3 Prozent aus. Anatolien hingegen hat sowohl kulturell als auch landschaftlich so viel zu bieten: unterschiedliche Küstengebiete, beeindruckende Berglandschaften, von Flüssen durchzogene weitläufige Hochebenen und kulturelle Hinterlassenschaften, die bis in das Jahr 10.000 v. Chr. zurückreichen.
Die unendlichen Weiten mit Flusstälern und zerklüfteten Gebirgen
Anatolien ist groß: Von dem westlichen bis zum östlichen Ende sind es etwa 1600 km, vom Schwarzmeer im Norden bis zum Mittelmeer im Süden immerhin rund 800 km. Was die Gesamtfläche betrifft, so umfasst Anatolien ein Gebiet von der Größe Deutschlands und Frankreichs zusammen. Allerdings sind die Gebiete im Allgemeinen dünn besiedelt oder teilweise sogar menschenleer.
Bezeichnend für die Landschaft sind die überwiegend naturbelassenen Hochebenen und zerklüfteten Gebirgsketten, durch welche sich fruchtbare Flusstäler schlängeln. Während im Norden pontische Alpen mit mehr als 3000 Meter Höhenlagen Zentralanatolien von der nördlichen Küste abschneiden, stellt im Süden das Taurusgebirge mit ebenfalls hohen Gipfeln eine natürliche Grenze dar.
Insbesondere in Ostanatolien prägen etliche erloschene Vulkane die Landschaft maßgeblich. Der wohl bekannteste unter ihnen ist Ararat an der iranischen Grenze, der mit 5137 Metern als der höchste Berg der Türkei gilt. Den heiligen Büchern der drei semitischen Religionen zufolge soll der Prophet Noah mit seiner Arche auf dem Berg gestrandet sein.
In Anatolien hat die menschliche Zivilisation ihren Anfang genommen
Schon früh in der Menschheitsgeschichte, schätzungsweise vor 10.000 Jahren, ist Menschen klar, dass auf den fruchtbaren Feldern von Anatolien beste Voraussetzungen für den Ackerbau vorhanden sind. Folglich ist es kein Zufall, dass sich Menschen aus dem Steinzeitalter in den Gegenden um die Flüsse Euphrat und Tigris herum niedergelassen haben. Diese Schwemmlandebenen eignen sich nämlich hervorragend für Ackerbau und Viehzucht.
Nicht zuletzt dieser Tatsache ist zu verdanken, dass Anatolien heute wie kaum eine andere Region einem Freilichtmuseum ähnelt. Bereits im 10. Jahrtausend v. Chr. wurde die erste steinzeitliche Zivilisation gegründet, die uns Menschen bisher bekannt ist. Die Rede ist von der ältesten Kulturstätte der Welt namens Göbekli Tepe, die nach jahrelangen Ausgrabungsarbeiten von einem Team aus deutschen Archäologen ans Tageslicht befördert wurde.
In der sogenannten Siedlung Çatalhöyük, auf einer Hochebene am äußersten Rande von Zentralanatolien, lebten im 7. Jahrtausend v. Chr. Tausende von Menschen. Zwar gibt es ähnliche Siedlungen in Mesopotamien aus der neolithischen Zeit, welche sogar um 1000 Jahre älter sind, aber hinsichtlich der Einwohnerzahl und Gesamtfläche werden sie von Çatalhöyük in den Schatten gestellt.
Erst im 2. Jahrtausend erhebt das Volk der Hethiter Anspruch auf die anatolischen Gebiete und steigt in der darauffolgenden Zeit zu einer Großmacht auf. Sogar das Reich der Ägypter unter dem mächtigen Pharao Ramses II. geht einer Konfrontation mit den Hethitern aus dem Weg und sieht sich gezwungen, den ältesten erhalten gebliebenen Friedensvertrag von 1274 v. Chr. mit ihnen zu unterzeichnen. Aus bisher unbekannten Gründen geht das Reich der Hethiter jedoch unter und anschließend kommt es zu einer Art Machtvakuum im gesamten Gebiet.
Kulturen wechseln sich ab
Rund um das 10. Jahrhundert v. Chr. siedeln sich zunehmend griechische Stämme in Anatolien an, was zur Gründung von mehreren Städten führt. Infolgedessen kommt es zu einer bis dahin beispiellosen kulturellen Blütezeit, die sich heute in den zahlreich zur Schau gestellten Bauwerken aus dieser Zeit spiegelt. Zu den bekanntesten unter ihnen gehören der Artemistempel in Ephesos, das Mausoleum von Halikarnasos sowie der Koloss von Rhodos, die sämtlich als antike Weltwunder anerkannt sind.
Nach der Herrschaft von Alexander dem Großen übernehmen die Römer ab dem 2. Jahrhundert die Macht und lassen das antike Erbe fortleben. Am Ende der antiken Periode ist es nur noch das oströmische Reich Byzanz mit der Hauptstadt Konstantinopel, das angesichts der derzeit mächtigen Araber im 7. Jahrhundert mit großen Gebietsverlusten im Osten zurechtkommen muss, sich aber im Westen gegen Invasoren erfolgreich wehrt. Ab dem 11. Jahrhundert sind es diesmal die türkischstämmigen Nomaden, die unaufhaltsam aus dem Osten in Richtung Westen nach Anatolien vordrängen. Aus zahlreichen türkischen Stämmen gehen bald die Osmanen hervor, die zunächst alle anderen unter sich vereinen und schließlich im 15. Jahrhundert vor den Toren Konstantinopels stehen, um dem byzantinischen Reich den Todesstoß zu versetzen und den lang gehegten Traum von der Eroberung einer derart wichtigen Stadt zu verwirklichen.
Die Herrschaft der Osmanen
Die einst aus kleinen Stämmen bestehenden Osmanen entwickeln sich zu einem türkisch geprägten Reich, das unter der Führung des Sultans Mehmed der Zweite 1453 auch Konstantinopel bezwingt.
Bis Ende des 17. Jahrhunderts haben die Grenzen des osmanischen Reiches alle Dimensionen gesprengt und sind weit über die heutige Türkei hinausgegangen. Der gesamte Balkan, Libyen, Ägypten, Algerien und der gesamte Nahe Osten einschließlich der arabischen Halbinsel sind nun Teil des Reiches. Der Eroberungsdrang scheint dennoch nicht gestillt zu sein und so stehen die Türken vor den Toren Wiens, um endlich nach Mitteleuropa vorzudringen.
Nachdem der zweite Versuch zur Eroberung von Wien scheitert, sind die Osmanen in der Folgezeit gezwungen, immer weitere Gebietsverluste hinzunehmen. Das Blatt hat sich nun gedreht, das Reich verliert zunehmend an Einfluss und wird fortan als kranker Mann bezeichnet.
Im Ersten Weltkrieg verbündet sich das osmanische Reich mit den Deutschen, was sich am Ende als eine fatale Fehlentscheidung herausstellt und mit der bedingungslosen Kapitulation in 1918 endet. Großmächte England, Frankreich, Italien, einschließlich Griechenland, teilen sich den Großteil des Landes untereinander auf und überlassen den Türken lediglich die Schwarzmeerküste und Teile Anatoliens.
Die Wiederauferstehung der Türken aus ihren Aschen
Diesmal jedoch meint das Schicksal es gut mit den Türken und beschert ihnen einen außerordentlichen Kommandanten und Staatsmann zugleich, Mustafa Kemal Atatürk. Dieses militärische Genie wird zuerst die versprengten Truppen einen und das ganze Land mit seinen knappen Mitteln zum Widerstand aufrufen. Tatsächlich gelingt es ihm am Ende, das türkische Volk von jung bis alt um sich zu scharen und in einem bis dahin unvorhergesehenen Freiheitskampf die Besatzer aus dem Land zu vertreiben.
Nach der Befreiung der türkischen Gebiete von Feinden ruft er in 1923 die türkische Republik aus und setzt somit dem osmanischen Reich ein Ende. Nun gilt es, das dekadente und religiös ausgerichtete Verwaltungssystem nach dem modernen westlichen Vorbild an die Bedürfnisse des neuen Jahrhunderts anzupassen. Bis zu seinem Tod im 1938 verbannt er durch zahlreiche Reformen die Religion aus allen Bereichen der Öffentlichkeit, modernisiert das ganze Rechtsystem wie beispielsweise das Strafrecht nach europäischem Vorbild, führt lateinische Buchstaben und moderne Maßeinheiten ein und erteilt Frauen das passive und aktive Wahlrecht.
Zusätzlich durch die Schließung der Medresen, des nur auf islamischen Lehren beruhenden, streng religiösen Schulsystems, und die Sprachreform, mit der Wörter arabischer Herkunft durch neue, meist türkische ersetzt werden, wird der Rückgang des arabischen Einflusses in Anatolien in Gang gesetzt. Bald feiert die türkische Republik ihren Hundertsten Jahrestag und der Modernisierungsprozess ist nicht abgeschlossen, was sich in durchaus arabisch-islamisch geprägten Städten wie Konya in aller Deutlichkeit zeigt. Die große Mehrheit der Türken wird jedoch zweifellos den Ideen von Atatürk bis in alle Ewigkeit folgen.